Es ist schon fast so etwas wie Tradition:
Jedes Jahr erscheint in der medizinischen Fachzeitung „Das Deutsche Ärzteblatt” eine Anzeige: Das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) sucht einen Arzt/Ärztin mit Sinn für Abenteuer. Mit dem Willen, sich für 14 Monate in eines der lebensfeindlichsten Gebiete dieses Planeten zu begeben – neun davon in absoluter Isolation. Sechs in Dunkelheit. Gesucht wird eine Ärztin oder ein Arzt als Stationsleiter und medizinischer Betreuer des insgesamt neunköpfigen Überwinterungsteams auf der einzigen deutschen Forschungsstation in der Antarktis, der Neumayer-Station.
„Ich bin schon mehrfach über die Anzeige gestolpert ... und irgendwann dachte ich mir dann: "Probier’s einfach mal!", so Tim Heitland. Er ist Vollblutmediziner, Facharzt für Chirurgie, Viszeralchirurgie, spezielle Viszeralchirurgie und Proktologe. Darüber hinaus ist der gebürtige Münchner auch noch im Besitz der Fachkunde Rettungsdienst. Fachlich also durchaus qualifiziert. „Die Angst vor dem eigenen Schneid kam dann auch erst nach der Zusage durch das AWI, bevor es nach Bremerhaven zur Vorbereitungsphase ging. Da kamen dann schon ab und an Zweifel, ob das wohl eine schlaue Entscheidung war ..."
Die Vorbereitungsphase. Wohl das Wichtigste für einen Aufenthalt in der Nähe des Südpols, erst recht für eine Überwinterung. Die Antarktis ist der trockenste und kälteste Kontinent unseres Planeten. Die Temperaturen erreichen nur im Westen während des wärmsten Monats Januar Werte um den Gefrierpunkt und liegen ansonsten im Jahresdurchschnitt mit -55 °C weit darunter. Grund ist der flache Einfallswinkel der Sonnenstrahlen. Die wenige Sonnenenergie, die in der Antarktis überhaupt ankommt, wird dazu noch vom Schnee reflektiert – kurz: Es ist kalt. Immer.
Dazu toben starke Winde, in manchen Gebieten wurden an 340 Tagen im Jahr Windgeschwindigkeiten von über 300 km/h gemessen. Zum Vergleich: Hurrikan Katrina, der Sturm, der 2005 weite Teile des Südens der USA verwüstete und als eine der verheerendsten Naturkatastrophen in der Geschichte gilt, erreichte in Spitzen "nur" 280 km/h. Neumayer III, die mittlerweile dritte Neumayer-Station des AWI, liegt zwar für antarktische Verhältnisse in gemäßigten Gefilden auf dem Ekström-Schelfeis, dennoch:
„Es bleibt die Erinnerung an Kälte, große Kälte, wirklich große Kälte, dann wieder nur Kälte", schrieb Tim Heitland am Ende seines letzten Aufenthaltes auf Neumayer III im (absolut lesenswerten) Blog „AtkaXpress.” Vier Monate dauert das Training. Basis ist dabei das Klinikum Bremerhaven-Reinkenheide. Hier findet zusammen, was neun Monate als Gemeinschaft auf rund einem Viertel eines Fußballfeldes zusammen leben muss. Ohne jegliche Hilfe von außen. „Alle Flugzeuge und Hubschrauber werden zu Beginn des antarktischen Winters verlegt – in die Arktis. Das alleine sind zwei Wochen Flug. Und selbst wenn wir ein Flugzeug hätten, die Witterungsbedingungen sind im Winter hier so übel, da ist an Fliegen nicht zu denken.” Ganz auf sich alleine gestellt ist der Mediziner im Falle eines Falles aber nicht. „Alle Teammitglieder sind im Vorfeld zwei Wochen in Reinkenheide intensiv geschult worden. Es könnte also jeder mit anpacken. Dazu ist die Ausstattung auf Neumayer III wirklich erstklassig.“ Ein vollwertiger OP, C-Bogen, zahnmedizinisches Röntgen, ein Videolaryngoskop, corpuls3 und corpuls.mission LIVE. „Hier draußen, im ewigen Eis, sind wir einfach auf die Möglichkeiten der Telemedizin angewiesen. Wir haben diese schon mit einem anderen System auf dem corpuls 08/16 genutzt, aber corpuls.mission LIVE ist in einer anderen Liga. So elegant wie dieses System aus corpuls3 und corpuls.mission LIVE integriert ist, ist großartig. Im Falle eines Falles haben wir binnen Sekunden fachliche Hilfe aus dem Klinikum Reinkenheide bei uns auf Neumayer III. Die Kollegen in Bremerhaven sehen exakt was wir sehen und das hilft einfach ungemein.“
Früher war das etwas komplizierter, sagt Heitland: „Mit dem corpuls 08/16 mussten wir hier erst irgendein Programm starten, dann musste Bremerhaven das Programm starten, dann mussten die Programme erst mal zum kommunizieren gebracht werden und dann durfte man noch hoffen, dass die Funkverbindung nicht zusammenbrach. Heute: einschalten, läuft.“ Das ist der Vorteil der Serverarchitektur bei corpuls.mission LIVE. Diese ist nicht nur schnell und sicher, sondern auch leicht zufrieden zu stellen. „Unsere IT-Leute freuen sich auch darüber, denn corpuls.mission LIVE braucht kaum Bandbreite unseres wertvollen Internetzugangs.“ Das System corpuls hat also viele Vorzüge, um die man beim AWI auch weiß: „Ich glaube, wir haben im Institut mittlerweile 5 oder 6 corpuls3 im Einsatz, dazu noch einige corpuls 08/16 als Backup. Die Polarstern (das Forschungs- und Versorgungsschiff des AWI, Anm. d. Red.) ist auch mit corpuls.mission LIVE, corpuls3 und corpuls 08/16 ausgestattet. Und die Kohnen-Station, unsere Inlandstation, ist, wenn sie im Sommer besetzt ist, ebenfalls mit corpuls3 ausgestattet.“
Trotzdem – zu sagen, man sei auf alles vorbereitet, wäre eine Übertreibung: „Wir sind hier immer noch isoliert. Im Basislager am Mount Everest gibt es auch ein Hospital – aber wenn Sie am Berg oberhalb von 8.000 Metern, innerhalb der Todeszone, stürzen und sich das Bein brechen ... dann sieht’s kritisch aus.”
An ihre Grenzen stößt die medizinische Ausrüstung nur im äußersten Fall, sagt Heitland: „Ein umfassendes Polytrauma mit der Notwendigkeit einer Bluttransfusion – das könnte Probleme geben. Wir haben hier zwar eine „Walking Bloodbank", das heißt, wir kennen die Blutgruppen aller Team-mitglieder, und könnten transfundieren, aber in Grenzen.” Wirklich kritische Fälle gibt es auf Neumayer III zum Glück selten. „Dazu sind Training und Auswahl zu gut. Das sind wirklich topfite Menschen, mit denen man hier überwintert. Jeder ist bis aufs kleinste Detail durchgecheckt.” Heitlands schlimmster Fall war daher auch eine Verletzung, wie sie in jeder Notaufnahme in jedem Krankenhaus auf diesem Planeten mehrfach die Woche behandelt wird: ein Bänderriss im Knie. Eine Lapalie – wenn man nicht gerade in der Antarktis auf Hunderten Metern Eis sitzt. „Wir brauchten eine Knieorthese mit Gelenk und Bewegungsbegrenzung. Hatten wir aber nicht, sondern nur eine steife. Die hat unser Stationsingenieur kurzerhand auseinandergeflext und ein Gelenk mit Begrenzung eingebaut. Hat super funktioniert.”
Extrem wichtig ist auch die Unfallprävention: „Wir werden im Training auch in der Brandbekämpfung geschult. Aber nicht nur so mit einem Pulverlöscher herumsprühen, sondern richtig, im Einsatzausbildungszentrum Schadensabwehr der Marine, da brennt’s dann ordentlich.” Die Ausbildung bei der Marine macht Sinn, kann man sich Neumayer III doch wie ein Schiff vorstellen. Aber Neumayer III ist mehr ein Raumschiff auf dem Weg zum Mars. Ohne die Möglichkeit, einen Hafen anzusteuern und einen Patienten auszuschiffen.
Das haben auch andere Institutionen gemerkt. „Als Arzt sitze ich ja nicht nur herum, wenn es gerade nichts und niemanden zu heilen gibt. Wir arbeiten an einer Studie, aufgelegt von der Ludwig-Maximilian-Universität in München, der Charité in Berlin, der University of Pennsylvania und der NASA, unterstützt von DLR und AWI. Dabei geht es um Langzeitweltraumreisen, wie beispielsweise eine Expedition zum Mars, und folgende Fragen: Welchen Einfluss hat die Isolation auf Psychologie und Physiologie? Wie reagiert das Immunsystem in dieser reizarmen Umgebung, wie das vegetative Nervensystem? Lassen die kognitiven Fähigkeiten nach, das Reaktionsvermögen, das dreidimensionale Denken mitsamt dem Orientierungsvermögen? Und, natürlich: Welche Dynamik herrscht in der Gruppe? Für die Studie entnehmen wir Blut-, Speichel- und alle möglichen weiteren Proben und frieren sie ein. Die Kryokonservierung ist hier ja weniger ein Problem. Wir tragen Activity-Tracker und schreiben regelmäßig 24h-EKGs. Wir haben sogar den original NASA-Simulator für das Andocken von Modulen an die Internationale Raumstation ISS hier, was im Übrigen gar nicht so einfach ist. Also das Andocken. Daneben gibt es zahlreiche psychologische Fragebögen sowie eine Vor- und Nachbereitung mit Untersuchungen in Berlin. Neumayer III ist in ihrer Abgeschiedenheit und mit unserem kleinen Team für so etwas ideal, deutlich besser als beispielsweise die Stationen der USA. Dort sind einfach zu viele Menschen im Winter. Klar, man könnte auch einfach bei der DLR in Oberpfaffenhofen neun Menschen in einen Container sperren und sagen: "Wir machen die Tür jetzt mal ein paar Monate nicht mehr auf", aber im Grunde weiß jeder, dass im Ernstfall die Tür wieder offen wäre. Auf Neumayer III haben wir keine solche Tür.”
Der Vergleich von Neumayer III mit einer Weltraumstation ist gar nicht so weit hergeholt. „Es gibt ungefähr 80 Stationen in der Antarktis, weniger als die Hälfte davon ist im Winter besetzt. Unser nächster Nachbar, die südafrikanische Station, ist rund 250 Kilometer entfernt. Das fahren Sie in Deutschland mal eben in ein paar Stunden. Für uns ist das ein Drei-Tages-Trip im Pistenbully – bei gutem Wetter. Trotzdem stehen wir alle in Kontakt, schicken uns virtuelle Postkarten übers Netz oder haben die Tradition des “48-Stunden-Film-Festivals.“ Dabei kriegt eine Station fünf Begriffe über die Tierwelt – Pflanzen gibt es ja keine – und dann muss sie innerhalb von 48 Stunden einen Film dazu machen."
Neben der Studienarbeit hat der Stationsleiter und -arzt noch mehr Aufgaben. Die Medizintechnik will beispielsweise geprüft werden. Davon gibt es an Bord von Neumayer III ja genügend.
„Wie im normalen Krankenhausalltag checke ich täglich den corpuls3 und andere Geräte. corpuls. mission LIVE und ähnliche, wichtige Systeme müssen ebenfalls regelmäßig überprüft werden. Das sind die ‘Arzt’-Aufgaben.
Als Stationsleiter bin ich aber auch für die Sicherheit des Teams und der Station, für den Brandschutz samt Übungen, die Markierung der Trassen und sogar für die Überwachung der Trinkwasserqualität verantwortlich. Dazu kommt noch Organisation und Öffentlichkeitsarbeit. Nur kochen muss ich nicht.”
Die Verpflegung ist auch der Punkt, an dem Gemeinsamkeiten zwischen Raumstation und Neumayer III enden. „Im Grunde haben wir hier alles, was irgendwie haltbar gemacht werden kann. Wie bei den erwähnten Proben für die Studie: Eingefroren haben Sie hier schnell was. Problematisch wird’s bei frischem Gemüse, Obst und dergleichen. Wir haben zwar seit Kurzem das ‘Projekt Eden’, ein Gewächshaus, aber es wäre nicht die Antarktis, wenn das einfach so funktionieren würde.” Dennoch: Die Alternative im Weltall wäre Proteinpaste aus der Tube. 416 Tage lang.
„Wissen Sie, was einem am meisten auffällt, wenn man nach 14 Monaten wieder heimkommt?”, fragt Heitland, „Gerüche. In der Antarktis haben Sie keine Gerüche, außer in der Station. Aber den Geruch von Pflanzen, der Natur, des Meeres oder – am anderen Ende des Angenehmen – einer Stadt mit ihren Abgasen. Das gibt es dort nicht. Und die Farbe Grün. Farben hat die Antarktis in vielen Variationen, es ist ein wunderschöner, einzigartiger Ort – aber es gibt kein Grün. Und nur ganz wenige Menschen. Das merken Sie, wenn Sie daheim aus dem Flieger steigen. Und es trifft Sie wie ein Schlag ins Gesicht. Aber nach zwei Wochen haben Sie sich wieder akklimatisiert.”
Bei allen Schwierigkeiten – die Faszination Antarktis ist unbestritten. Seit 36 Jahren betreibt das AWI Forschungsstationen auf dem eisigen Kontinent. Und immer wieder zieht die magische Landschaft Menschen in ihren Bann. Der Namensgeber des AWI, der Polarforscher Alfred Wegener, soll über diesen Ort einmal gesagt haben „... hier gewinnt das Leben Inhalt. Mögen Schwächlinge daheim bleiben und alle Theorien der Welt auswendig lernen, hier draußen Auge in Auge der Natur gegenüberstehen und seinen Scharfsinn an ihren Rätseln erproben, das gibt dem Leben einen ganz ungeahnten Inhalt.“ Tim Heitland schrieb dazu im AtkaXpress-Blog: „Recht hatte er. Gut, ich würde nicht behaupten, dass die Daheimgebliebenen Schwächlinge sind. Auch hätten wir nicht genügend Platz für alle in der Station. Aber die Sache mit dem Inhalt, der schließe ich mich an. Das Leben findet hier auch heute noch einen Inhalt. Einen sinnvollen, wichtigen, bereichernden Inhalt.”
Lust bekommen? Dann achten Sie doch mal auf die Anzeige im Deutschen Ärzteblatt. Aber auch wenn Sie Schreiner, Koch oder sonst ein Hand-werk ausüben und nebenbei Rettungsdienst fahren, stehen ihre Chancen gut. Schauen Sie einfach mal vorbei auf www.awi.de.
Fotos: Tim Heitland, S. Christmann, AWI