„Die Air Zermatt ist der sichere Weg rein und raus aus dem Tal“, sagt Gerold Biner. „Das Tal“ liegt auf 1.610 Metern Höhe, in der Südschweiz, angrenzend an Italien, im Kanton Wallis. „Das Tal“ ist nach dem höchsten Gipfel hier benannt, dem 4.478 Meter hohen Matterhorn: Es ist das Mattertal, von dem Gerold Biner spricht. Zum Einsatzgebiet der Air Zermatt gehören neben dem Matterhorn auch die anderen 22 Hauptgipfel, die sich rund um die Gemeinde Zermatt im Mattertal erheben. 6.000 Einwohner, 30.000 Übernachtungsbetten und unzählbare Tagesgäste. In der Saison können sich bis zu 50.000 Menschen im Ort, im Tal, auf den Pisten und in den Felswänden aufhalten und in Gefahr bringen. Die Air Zermatt sichert die gesamte Region mit ihren Hubschraubern ab.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ist Zermatt ein nur zu Fuß und mit Maultieren erreichbares Bergbauerndorf. Anfang des 20. Jahrhunderts wird Zermatt zu einem Mekka der Bergsteigerinnen und Bergsteiger. Die kleine Gemeinde Zermatt erhält mit der Bahnstrecke ins Rhonetal den Anschluss an die große Welt. Der Ort wächst. Aber Lawinen oder Überschwemmungen machen die Straßen und Eisenbahnlinie immer wieder unpassierbar. Auch die Stromversorgung bricht für Tage immer wieder zusammen. In den Unterkünften ist es kalt und dunkel, manchmal wird auch das Essen knapp. Trotzdem kommen immer mehr Gäste ins Mattertal. Viele von ihnen verletzen sich beim Sport in den Bergen. Zwei Ärzte lassen sich in Zermatt nieder und versorgen Gäste wie Einheimische. Die Rettung aus den Bergen ist damals langsam: Oft bringen die Schlitten und Maultiere nur noch Verstorbene zurück ins Tal. Verletzte und Erkrankte verlassen das Dorf überwiegend mit der Bahn. In den 1960er-Jahren können sie von einem weit entfernt stationierten Piloten mit seinem Hubschrauber abgeholt werden.
Im Jahr 1960 kehrt auch Beat H. Perren zurück in sein Heimatdorf Zermatt. Nach seinem Studium engagiert er sich im Gemeinderat, ist für das Gesundheitswesen zuständig und betreibt eine Apotheke. Er kämpft für den ersten Krankenwagen der Gemeinde und holt – mit einem weiteren „Chauffeur“ – Patientinnen und Patienten an den Talstationen ab. Er bringt sie zu einem der beiden Ärzte im Dorf oder ins nächste Krankenhaus nach Visp. Beat H. Perren möchte die Rettung von Bergsteigerinnen und Bergsteigern im alpinen Gelände verändern. Zermatt war der Ort mit der höchsten Zahl an Bergunfällen in der Schweiz. Trotz des politischen und gesellschaftlichen Gegenwinds gründet er mit einigen Mitstreitern eine Initiative. Ihr Ziel: Die Gründung eines „Helikopterunternehmens und der Bau eines Heliports“. Die Anzahlung für den ersten Hubschrauber des neuen Unternehmens stemmt er mit einem privaten Kredit.
Am 7. August 1968 wird die Aktiengesellschaft in Zermatt gegründet, ein Verwaltungsrat bestimmt und er, Perren, Präsident der Gesellschaft. In den Statuten der Gesellschaft legen die Gründer fest, dass „Rettungs-, Evakuations- und andere Hilfsflüge Vorrang vor allen anderen Tätigkeiten“ haben sollen. Noch vor der Gründung der Gesellschaft, kurz nach Ostern 1968, startet der heutige Ehrenpräsident Perren mit dem ersten Piloten der Gesellschaft mit Rettungsflügen im Mattertal.
„In der Hochsaison fliegen wir am Tag mit drei Hubschraubern 25 bis 30 Rettungseinsätze“, erklärt Gerold Biner, Pilot, Geschäftsführer und CEO der Aktiengesellschaft Air Zermatt. „Beat H. Perren hat mit seinem Weitblick die Wichtigkeit erkannt, uns als Dienstleistungsunternehmen zu gründen. Das Tal mit der Welt zu verbinden, ist der Sinn unseres Daseins“, so Biner. Neben den Rettungseinsätzen übernimmt die Air Zermatt auch kommerzielle Flüge: „Unsere Flugrettung ist hoch defizitär. Die Gewinne aus den kommerziellen Aufträgen investieren wir als Subventionen innerhalb des Unternehmens, damit wir den Rettungsdienst aufrechterhalten können. Wir kriegen für die Luftrettung keine Steuergelder, sondern rechnen mit den Versicherungen ab, die immer weniger für unsere Leistungen bezahlen wollen“, erklärt Biner.
„Für uns sind diese Aufträge Training und Job, um die schwierigen Rettungseinsätze fliegen zu können. So gewinnen wir alle die Gewissheit und Gelassenheit, was wir mit der Technik und uns selbst machen können“, erzählt der Pilot. Die Crews bringen Skifahrer auf die Pisten, transportieren Lasten und bieten Rundflüge an. „Wenn alles abgeschnitten ist, fliegen wir Menschen und Material zur Versorgung der Gemeinde rein und raus“, sagt der Pilot, der 1983 zur Air Zermatt kommt. „Damals war das Unternehmen 14 Jahre alt und hatte 25 Mitarbeiter“, erinnert sich Biner. Fast 40 Jahre später sind es 78 Mitarbeitende. „Wir sind lokal verankert. Viele unserer Piloten und Angestellten kommen aus der Region. Mitarbeitende von überall sind eingeladen, für uns zu arbeiten. Das gibt einen guten Mix. Noch wichtiger ist, dass wir unsere Leute immer fördern, wenn sie den Drang verspüren oder sich weiterentwickeln wollen“, berichtet der Geschäftsführer. Die gesamte Geschäftsleitung der Air Zermatt sei im Unternehmen „groß geworden“. Dies ermögliche dem Team, das Risiko von Innovationen besser abzuschätzen und eher konservativ unterwegs zu sein. Von zwei Basen aus starten die heute elf roten Hubschrauber mit den roten und weißen Sternen zu rund 2.000 Rettungseinsätzen im Jahr. „Bei den Helis mit den Sternen weiß jeder Walliser, dass es sich um einen von ‚uns‘ handelt. Die 13 Sterne stehen für die Bezirke des Wallis und finden sich in unserem Kantonswappen wieder“, erzählt Geschäftsführer Biner.
Ein Heliport ist im Norden des Ortes Zermatt, der zweite im 35 Kilometer entfernten und weiter nördlich gelegenen Rhonetal in Gampel angesiedelt. Vom dritten Standort in Raron, der für die Wartung und kommerzielle Flüge genutzt wird, können bei Bedarf weitere Maschinen starten. Zusätzlich besetzt das Unternehmen rund um die Uhr einen Rettungswagen für das Mattertal. Im eigenen Trainingszentrum bildet die Air Zermatt jedes Jahr Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt für Rettungseinsätze fort.
„Im Gebirge ist der Hubschrauber oft das beste und wirtschaftlichste Instrument, um Berghütten oder Seilbahnen zu bauen oder um Menschen dort oben zu versorgen, ohne dass man eine Straße bauen muss. So leisten wir auch einen gewissen Beitrag zur Nachhaltigkeit, statt Straßen in die Natur zu bauen und mit Lastwagen die Güter zu transportieren.
Mittlerweile sind die Hubschrauber technisch so ausgereift, dass sie auch wirtschaftlich mit den – auf den ersten Blick günstigeren – Varianten des Transports mithalten können.“ Das Thema Nachhaltigkeit ist für die Air Zermatt wichtig. Das Unternehmen kann und möchte einen Beitrag dazu leisten. Ebenso wichtig ist dem CEO Gerold Biner die Sicherheit seiner Kollegen und Mitarbeitenden. „Das Level der Aufmerksamkeit für die wahre Sicherheit hochzuhalten, ist eine riesige Challenge. Der Mensch ist nicht gemacht zum Fliegen und daher auch das größte Risiko bei der Unternehmung Fliegen“. Es sei ein Balanceakt zwischen der Sicherheit und dem Geldverdienen. „Jeder Mitarbeitende muss, wenn er sich nicht wohlfühlt, die Möglichkeit haben ‚Nein‘ sagen zu können, denn niemandem darf etwas passieren, weil er sich in ein unnötiges Risiko begeben hat. Wir brauchen Vertrauen in beide Richtungen und Respekt in beide Richtungen, um ein sehr gutes Unternehmen zu sein.“
Corona habe der Air Zermatt geschadet, aber Biner hofft, dass sich die Pandemie beruhigt und die Gäste aus den Vereinigten Staaten, China und der ganzen Welt den Weg zurück ins Urlaubsziel Zermatt finden und die Auftragslage wieder Aufwind bekommt. Vor der Krise waren es in der Saison pro Tag bis zu 50.000 Gäste auf den Pisten und Wanderrouten rund um Zermatt – dem Mekka der Bergsteiger. „Ob es wird wie vor der Krise, sei dahingestellt, aber ich glaube, dass sich alles wieder erholen wird. Wir haben bedeutend weniger Rettungseinsätze, da die internationale Klientel in der Region noch immer fehlt. Die Schweizer, Deutschen und Europäer laufen einfach auch besser Ski, da passieren weniger Unfälle.“
von Johannes Kohlen