"SMUR Pédiatrique" Kinderrettungsdienst in Paris

Der Verkehr ist einfach die Hölle, auf Blaulicht und Sirene scheint heute keiner zu hören. Wieder mal. Gut, dass Gilles zwar angespannt, aber die Ruhe selbst ist. „Ich kann den Verkehr eh nicht ändern“, meint der Mittvierziger achselzuckend, während er den 6 Meter langen Renault in den Gegenverkehr lenkt und den Stau vor einer roten Ampel gekonnt umzirkelt, „Paris ist nun mal eine Großstadt“. Gilles Anspannung ist nachvollziehbar. Der Funkspruch aus dem Dispatch klingt nach dem Alptraum jedes Elternpaares: Ein Kind wurde von einem Auto angefahren. Situation völlig unklar. Ein Smart ForTwo erschrickt und rennt um sein Leben. Gilles Mundwinkel zuckt nach oben: „Geht doch!“

In Paris müssen Rettungskräfte oftmals auf die Gegenspur ausweichen.

Paris. Stadt der Liebe, Hauptstadt der Grande Nation und Wiege der Demokratie. Und: Megastadt. Fast 13 Millionen Menschen wohnen, leben und arbeiten in der Metropolregion Paris, mehr als in Finnland und Norwegen zusammen – nur eben auf einer Fläche, die kleiner ist als das Bundesland Sachsen. Um hier im Rettungsdienst zu arbeiten braucht es besondere Menschen. Vor allem dann, wenn der Rettungsdienst speziell für Kinder ist. So wie der SMUR Pédiatrique des Universitätskrankenhauses „Robert Debré“ im 19. Arrondissement.

Tief in den Katakomben des Krankenhauses, das nach eigenen Angaben das größte Kinderkrankenhaus Europas ist, steht in einem dunklen, kleinen Büro ein abgewetzter Schreibtisch. Darauf ein Schild, Schildpatt, offensichtlich handgemacht: „Dr. Lodé“. Die Person hinter diesem Schreibtisch ist um die eins-sechzig, ihre Ausstrahlung wirkt eher zwei Meter groß. Noëlla Lodé ist die Frau, die vor gut 30 Jahren den Kinderrettungsdienst aus der Wiege gehoben hat. Noch heute leitet sie das Team, dass sie zärtlich „ihre Kinder“ nennt, mit mütterlicher Hand: „Natürlich gibt es hier und da mal Streit, wir sind eben eine Familie und fühlen uns nicht nur so. Jeder kennt die Schwächen und Stärken des anderen. Und wir alle lieben unseren Job“.

Dr. Noëlla Lodé, Gründerin des Kinderrettungsdienstes, „SMUR Pédiatrique“ am Universitätskrankenhaus „Robert Debré“
Dr. Noëlla Lodé, Gründerin des Kinderrettungsdienstes, „SMUR Pédiatrique“ am Universitätskrankenhaus „Robert Debré“

So wie Marianne. Marianne sitzt hinten im Aufbau des Masters und nimmt sich gerade des kleinen Jungen an. Sein Tretrad liegt draußen auf Straße, daneben steht ein Audi A4 mit Warnblinker. Männer gestikulieren, Polizisten nehmen Daten auf. Der kleine Kerl, vielleicht drei oder vier Jahre alt, war auf dem Bürgersteig unterwegs als der Audi aus einer Einfahrt fuhr. Der Fahrer hat den Jungen schlicht übersehen. Der Zwerg konnte nicht rechtzeitig bremsen und kollidierte mit der rechten Ecke des Stoßfängers.
Der Schmerzensschrei eines Kindes. Wie Fingernägel auf einer Schiefertafel geht einem dieses Geräusch durch Mark und Bein. Dazwischen piepst deutlich Kollege corpuls3 und signalisiert: Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung, alles im grünen Bereich. Den Jungen interessiert das nicht, er hat sich definitiv einen leichten Schock eingefangen und will nur aus diesem komischen Auto raus – zu Mama…
Bis Marianne zu singen beginnt.

"Petit escargot porte sur son dos
Sa maisonnette.
Aussitôt qu’il pleut, il est tout heureux,
Il sort sa tête."

Beim zweiten „escargot“ hat sie den kleinen Kerl. Das Schreien verstummt erst zu einem Schluchzen, dann ist nur mehr ein Schniefen zu hören. „Wir geben Schmerzmittel nur als allerletzten Schritt“, erzählt sie mir später, „Oft reicht es schon, wenn wir die Kinder ablenken. Dazu haben wir sogar Kuscheltiere und anderes Spielzeug an Bord. Sogar ein Tablet mit Computerspielen haben wir dabei“. Marianne, selbst zweifache Mutter, kann sich keinen besseren Job vorstellen. „Kinder sind einfach so was Tolles! Wenn ich es schaffe, ein paar Kinderaugen wieder zum Leuchten zu bringen, dann ist das jeden Aufwand wert. Und ich darf dafür sogar mit ihnen spielen“, strahlt sie mich an, „ich bin einfach selbst zu gerne noch Kind“.

Es war ein langer und steiniger Weg, erzählt Dr. Lodé, bis sie „ihren“ Kinderrettungsdienst durchgesetzt hatte. Die Medizin war damals noch mehr Männerdomäne als heute, aber irgendwann hatte sie auch die letzten Zweifler überzeugt. Ihr wurden bescheidene Räume zugewiesen, in den Untergeschossen der Servicetrakte des Krankenhauses. Genau dort sitzt der SMUR Pédiatrique auch heute noch. Bescheiden, leicht verwohnt, aber irgendwie auf eigene Art und Weise gemütlich. Ein unfassbar lautes, mechanisches Klingeln unterbricht uns, das Signal für den nächsten Einsatz. Was da klingelt, ist ein rotes Telefon. Ein Überbleibsel aus den Anfangstagen, hat sogar noch eine Wählscheibe. „Das ist ein Segen“, sagt Noëlla Lodé, „heute piept ja ständig irgendwo ein elektronisches Gerät oder Handy, da reagiert ja keiner mehr – aber auf dieses Klingeln, da reagieren alle! Das lässt keine Zweifel, was es ist oder bedeutet.“

Ungemütlich ist es draußen, kalt und regnerisch. Die Scheinwerfer der Autos spiegeln sich im nassen Asphalt, als der Renault Master mit Gilles am Steuer durch das Tor zur Rettungswache rollt. Das Team ist müde, dreizehn Stunden ununterbrochen im Auto, ein Einsatz nach dem nächsten. Wegen des Wetters konnten keine Helikopter fliegen, deswegen kamen zu den tatsächlichen Einsätzen noch einige Transferfahrten quer durch Paris hinzu. Stéphanie, die junge Notärztin, sammelt nur schnell ihre Klamotten ein und verlässt fluchtartig die Wache. Sie will zu ihrem Kind, heute war ihre erste Schicht nach drei Wochen Mutterschaftsurlaub.

Zwei Stunden später ist sie wieder da. Wegen uns, sagt sie. „Ich will euch noch meine Geschichte mit dem corpuls3 erzählen. Ich will, dass ihr wisst, wie wichtig euer Job ist“. Sie erzählt eine ergreifende Geschichte vom Transfer eines acht Monate alten Säuglings. Es hieß, das Kind hätte Atemnot. Während des Transports stellte sich heraus, dass der kleine Junge obendrein einen septischen Schock erlitten hatte. „Sein Gesicht war plötzlich aschfahl und sein Blutdruck sackte weg. Ein Blick auf den corpuls3 zeigte uns: Kammerflimmern! Das ist sehr selten bei einem Kleinkind, aber die Anzeige war eindeutig. Wir wussten sofort, was zu tun war“. Stéphanies Augen wandern hin und her, sie gestikuliert, während sie den Einsatz erneut durchlebt. „Alles ging unfassbar schnell. Paddles mit Kinderaufsatz aufsetzen, Schock auslösen. Nur 30 Sekunden später zeigte uns der corpuls3 wieder einen Sinusrythmus und stabilen Puls“. Das Team des SMUR Pédiatrique hatte den kleinen Jungen zurück geholt. „Es ging um Sekunden! Aber Dank des corpuls3 hatte wir sofort die Informationen, die ich benötigte, um das Kind richtig zu behandeln und sein Leben zu retten“.

Notärztin Stéphanie (rechts) erzählt im Interview von einem dramatischen Einsatz.

Notärztin Stéphanie (rechts) erzählt im Interview, wie sie mit ihren Kolleginnen und dem corpuls3 ein Kleinkind erfolgreich reanimiert hat.

„ESSEN!“, schallt es plötzlich durch die Wache. Dabei haben wir schon einen Kloß im Hals. Trotzdem folgen wir Mariannes Ruf. Der Aufenthaltsraum ist vollgepackt mit Tischen und Stühlen jeder erdenklicher Form, Farbe und statischer Stabilität. Eine improvisierte Tafel. „Wir sind in Frankreich. Wenn wir Gäste haben, dann wird gefeiert“, erklärt uns Marianne und schiebt uns Stühle hin. Die Raclette-Grills laufen auf Maximum, wir reden, lachen und singen. Am Kopf des Tisches sitzt „Maman“, wie Dr. Lodé von ihren „Kindern“ genannt wird, und lächelt. Ob sie stolz auf ihren SMUR ist, möchte ich wissen. „Oh ja“, sagt sie, „sehr!“

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