“Normannen”. Angsterfüllt blickt Arwyn Richtung Süden, Richtung Pen y Fan. Dort oben, auf dem Gipfel des höchsten Berges in der Gegend brennt eindeutig ein Feuer. Es ist ein Signal. Eine Warnung seiner Landsleute an die Bevölkerung von Aberhonddu sich in Sicherheit zu bringen, denn die Engländer greifen an.
Schon seit Jahren versucht der legendäre englische König Wilhelm, der Eroberer, die Kelten zu vertreiben und Wales unter seine Kontrolle zu bringen. Bisher ohne Erfolg. Zu schroff die walisische Wildnis, zu unwirtlich das Klima, zu gut die Kenntnis der Bevölkerung über Berge, Täler und Höhlen, in denen sie sich verstecken konnten – wenn sie rechtzeitig gewarnt wurden. Durch die Leuchtfeuer, die “Beacons” auf den Gipfeln um Aberhonddu. “Brecon” auf nicht-walisisch.
Heute heißt die Bergkette, durch die wir gerade in einem gelben RTW des Welsh Ambulance Service rollen, die “Brecon Beacons”, die Leuchtfeuer von Brecon. Die Feuer sind allerdings schon seit Jahrhunderten erloschen. Das Funkgerät und das Mobiltelefon sind an deren Stelle getreten. Für Manon Ludlam unverzichtbar: “Immer wieder unterschätzen Wanderer das Wetter in den Beacons. Hier kann es ziemlich schnell ziemlich kalt werden”.
Die 33jährige kennt die Berge wie Ihre Westentasche, ist hier aufgewachsen. “Mein Vater war sehr naturverbunden. Er war Wander- und Bergführer. Ich habe jede freie Minute draußen zugebracht. Das prägt. Wahrscheinlich der Grund, warum ich auch noch Bergretterin geworden bin”. Im “Alltag” ist Manon Paramedic. Überzeugungstäterin. “Ich sehe das hier so oft. Die jungen Leute verlassen die Beacons und ziehen in die großen Städte. Die Älteren bleiben zurück, weil das hier …” Sie deutet aus der Windschutzscheibe. Mäandernde Hügel, wild, schroff, karg. “Das ist ihre Heimat. Bei einem Notfall sind die Kinder aber hunderte Meilen entfernt in London, Birmingham oder Edinburgh. Und die Eltern sind im Alter auf sich alleine gestellt”.
Es ist eine eingeschworene Gemeinde. Waliser im Allgemeinen. Bei einer Volkszählung im Jahr 2001 stuften sich die meisten Waliser als „Britisch, weiß“ ein. 15 Prozent aber schrieben kurzerhand “Walisisch” auf das Formular, obwohl es diese Antwortmöglichkeit gar nicht gab. Sagen Sie deshalb in der Gegenwart eines Walisers nie “England” zu Wales. Kommt gar nicht gut. Ich spreche aus Erfahrung, da wird mindestens eine Runde für das ganze Pub fällig.
Besonders in Gegenden wie den Beacons achtet man aufeinander. Das ist nötig. Denn Hilfe ist meistens nicht direkt um die Ecke. Der Nachbar wohnt einige hundert Meter Luftlinie entfernt, der nächste Arzt mehrere Kilometer. „Keine guten Voraussetzungen für uns beim Rettungsdienst. Wir müssen oft irrsinnige Umwege fahren, weil der Notfallort anders mit dem Rettungstransportwagen nicht zu erreichen ist. Wir haben natürlich auch ehrenamtliche First Responder, aber die haben mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen wie wir“. Während in Deutschland ein First Responder ein Gebiet von rund 50 Km², also grob vergleichbar mit der Fläche des Ammersees, zuständig ist, umfasst das Gebiet eines First Responders in Wales locker das Zehnfache. „Der Rettungshubschrauber ist da natürlich eine gern genommene Option, aber wer englisches Wetter schon mies findet, der kennt das walisische nicht. Oft kann der Helikopter wetterbedingt nicht fliegen“.
In dem Helikopter sitzt aber auch der Arzt. Der findet sich in Wales nicht an Bord des Rettungswagens, ähnlich wie in anderen Ländern Europas. Während aber beispielsweise in Deutschland nur ein Arzt einen Patienten für tot erklären darf, haben Rettungssanitäter in Großbritannien mehr Entscheidungsgewalt. „Das ist für uns auch unverzichtbar. Bei einem Einsatz mit mehreren Patienten ist es entscheidend, dass wir vor Ort in gewisser Weise triagieren. Anders ist es personell nicht machbar“. Eine Folge der Einsparungen im britischen Gesundheitssystem – ein Lied, das sicher viele Kollegen in anderen Ländern mitsingen können. „Das merkt man vor allem in den Krankenhäusern. Das kann man sich nicht vorstellen, aber: es gibt Tage, da stauen sich vor den Notaufnahmen der Krankenhäuser die RTWs. Die stehen da teilweise Stunden! Mit Patienten an Bord! Und während die Teams vor dem Krankenhaus warten, kriegt das Dispatch neue Notfälle gemeldet. Aber wen sollen sie denn schicken, wenn die Rettungswagen noch belegt sind?“ Eine berechtigte Frage.
Wie viele Überstunden sie hat, frage ich Manon. „Keine Ahnung“. Aufgehört zu zählen? „Eher nie gezählt. Warum auch? Ändert ja nichts, wenn ich weiß, dass ich eigentlich 28 Wochen am Stück frei nehmen könnte und keinen einzigen Urlaubstag verjubeln würde. Die Menschen werden ja trotzdem krank und brauchen Hilfe“. Die Frage nach dem „Warum“ stelle ich gar nicht erst. Ich sehe die Antwort schon in Manon’s Augen. Als ob sie spüren würde, dass ich darauf herum denke, sagt sie „Ich freue mich einfach, wenn ich meinen Teil dafür leisten kann, dass es einem Menschen wieder besser geht. Ich finde, es ist wichtig, dass wir aufeinander aufpassen“.
Wie in einer Familie achten auch Manons Kollegen aufeinander. Das merkt man besonders in heiklen Situationen wie der Wiederbelebung eines Patienten mit Kreislaufstillstand. In Wales laufen Reanimationen bereits nach dem „Pit Stop“-Prinzip. Bei diesem Prozedere gibt es eine Person, die als eine Art Supervisor mit Checkliste bei den Füßen des Patienten steht und exakte Ansagen macht, wann welche Handgriffe durchgeführt werden sollen. Der Vorteil dabei: die behandelnden Helfer am Patienten müssen sich nur auf eine einzige Aufgabe konzentrieren. Wechsel in der Herzdruckmassage, der Beatmung oder die Defibrillation werden vom Supervisor angesagt.
„Natürlich kennen wir die Handgriffe im Schlaf, aber es entlastet einen schon, wenn man sich nur auf eine einzige Sache konzentrieren kann ohne die Angst, etwas zu übersehen oder zu vergessen“. Vor allem am Ende einer langen Schicht. Der Stress muss sicher irgendwo hin. „S und B – Sofa und Berge. Das ist mein Ausgleich. Entweder mit einem Glas Rotwein auf der Couch oder hinaus in die Natur. Hauptsache, Bohdi ist dabei“ – „Dein Freund?“, frage ich. „Mein bester Kumpel. Ein schwarzer Labrador“.