Es ist dieses unvergleichliche Geräusch: ein Schnarren, manchmal auch ein Klopfen, gerne untermauert vom leichten Fauchen einer Turbine. In jedem Fall bedeutet dieses Geräusch in unseren Breiten aber seit 75 Jahren: Hilfe naht. Sei es in Form der Polizei oder der Rettungskräfte, der Hubschrauber ist, wie kein zweites Fortbewegungsmittel, mit dem Schutz menschlichen Lebens verbunden. Dabei hat alles ganz bescheiden angefangen: mit einem Spielzeug.
Denn schon rund 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung spielten kleine Kinder in China mit Stöcken, auf denen oben Propeller montiert waren. Diese „Luftkreisel“ funktionierten nach genau dem gleichen Prinzip wie heute eine topmoderne Eurocopter H145: Der Rotor, in Falle des Spielzeugs, von den Händen in Rotation versetzt, produziert Auftrieb. Der Luftkreisel schwebt. Wir hier in Europa kennen dieses Spielzeug bis heute, wenn auch aus Plastik und mit einer Zugleine versehen. Aber von dem Spielzeug bis zur ersten Rettung eines Menschenlebens war es ein weiter Weg.
Denn im Gegensatz zur Glühbirne oder dem Telefon gibt es beim Helikopter nicht einen Erfinder, sondern viele. Auch viele, deren Namen man heute gar nicht mehr kennt. Wie zum Beispiel ein gewisser Herrmann Ganswindt, in dessen Konstruktion 1901 in Berlin das erste Mal Menschen in einem Hubschrauber flogen – ganze zwei Jahre vor dem motorisierten Erstflug der Gebrüder Wright. Allerdings setzte Ganswindt auf Fallgewichte als Antrieb und eine Sicherheitsstange, damit den Insassen zumindest ein Minimum an Schutz zu Gute kommen konnte. Diese Sicherheitsstange wurde Ganswindt später zum Verhängnis. Zweifler zeigten ihn wegen Betrugs an und Ganswindt landete acht Wochen in Untersuchungshaft.
Andere Namen sind dagegen in unserem Gedächtnis geblieben. Leonardo da Vinci zum Beispiel. Das italienische Genie zeichnete schon im 15. Jahrhundert seine berühmte „Flugschraube“, die aus heutiger Sicht allerdings eher weniger flugtauglich wirkt. Oder Igor Sikorsky, dessen Name bis heute auf einigen der erfolgreichsten und verbreitetsten Drehflüglern der Welt prangt: den mächtigen CH-53 Transportern, den UH-60 Black Hawks der US Army und der S-92-Reihe, dem Transportmittel der Wahl auf den Bohrinseln rund um den Planeten.
Igor Sikorsky hat zwar weder den Helikopter, noch das heute noch verwendete Layout aus einem horizontalen Haupt- und einem (in etwa) vertikalen Heckrotor erfunden, aber der findige Russe und Wahl-Amerikaner hat all das, was seine Erfinderkollegen vor ihm erschaffen haben, zu einem gut funktionierenden und – vor allem – stabil flugfähigem Gesamtwerk zusammengefügt. Deshalb ist dieser Name auch untrennbar mit der Rettungsfliegerei verbunden, denn der erste „Rettungshelikopter“ war ein Sikorsky…auch wenn damals noch kein Mensch von Rettungshelikoptern sprach.
Es war nämlich Krieg. Überall. Weltkrieg, also. Der zweite, um genau zu sein. Und auch dieser musste erst mal fast zu Ende sein, bevor der Helikopter seinen ersten lebensrettenden Auftritt hatte:
April im Jahre 1944. Rund zwei Monate vor der Invasion der Alliierten in der Normandie spielte sich am anderen Ende der Welt eine kleine Tragödie ab, die wegen der Geschehnisse auf dem Rest des Planeten wahrscheinlich niemals irgendwo verzeichnet gewesen wäre, würde es nicht heute als Geburtsstunde der Helikopter-Flugrettung angesehen. In den Hauptrollen: ein junger Helikopterpilot des US Army Air Corps, Second Lieutenant Carter Harman und sein Sikorsky YR-4B.
Indien, die Grenze zu Birma, dem heutigen Myanmar. Auch hier wurde gekämpft, Blut vergossen, Menschen verletzt. Briten und Amerikaner kämpften gemeinsam gegen das Japanische Kaiserreich.
Am 21. April stürzte über dem dichten Dschungel Birmas, mitten auf feindlichem Gebiet, ein Beobachterflugzeug ab. Die Ironie dabei: das Flugzeug war selbst ein Verletztentransport, die Passagiere verwundete Soldaten. Deren Zustand ließ es nicht zu, dass sie sich aus eigener Kraft zum nächsten Stützpunkt schleppen. Die einzige Möglichkeit: die neueste Errungenschaft des US Army Air Corps: der Helikopter.
Nur wenige Monate zuvor wurde der Alliiertenstützpunkt von Lalaghat, Indien, die Heimat von vier brandneuen Sikorsky Helikoptern samt Mechanikern und Piloten. Die Mechaniker hatten auch prompt alle Hände voll zu tun, denn erfahrene Helikopterpiloten gab es nicht. Schneller als es der Army lieb war, waren Ersatzteile aufgebraucht und Piloten verschlissen. Aus vier flugbereiten Helikoptern wurde einer. Und ein Pilot. Carter Harman.
Harman startete den Sieben-Zylinder-Sternmotor des Sikorsky und begab sich auf die Reise. Der Absturzort lag nämlich fast 1.000 Kilometer von Harmans Stützpunkt entfernt. Dazu war die YR-4B kaum schneller als das Regionalexpress „Münsterland“ zwischen Dülmen und Detmold: nur knapp über 100 Km/h lag die Reisegeschwindigkeit des kleinen Helikopters. Macht mal eben gute 10 Stunden Flug. Ohne Tank- und Pinkelpausen. Um letztere musste sich Harman allerdings keine Gedanken machen, denn mit einer Tankfüllung waren gerade mal 250 Kilometer drin.
In Summe kann man sagen: statt der heute üblichen 20 Minuten Reaktionszeit, brauchte Harman 24 Stunden(!) zu seiner Einsatzbasis. Der eigentliche Absturzort lag allerdings noch mal 200 Kilometer weiter.
Die einzige Lösung: Zusatztanks. Anders wären die 400 Kilometer zur Absturzstelle und zurück nicht machbar. Das bedeutet aber auch, dass Harman die Männer einzeln ausfliegen musste. Die Zuladung des kleinen Sikorsky war lächerlich gering. Die feuchte Hitze im Dschungel Birmas half da auch nicht wirklich. Auf einem Flug überhitzte die Maschine und Harman musste selbst notlanden. Nach einer ausgiebigen Abkühlphase sprang der 9-Liter-Sternmotor aber wieder an und die Aktion konnte weitergehen.
Tagelang mussten sich die verunglückten Soldaten vor den japanischen Suchtrupps im dichten Regenwald verstecken, bis endlich auch der letzte ausgeflogen werden konnte. Es war der Pilot der Unglücksmaschine. Er hatte bis zu diesem Tag noch nie einen Hubschrauber gesehen.
Harman hat mit seiner Rettungsaktion einen Trend gesetzt. In den folgenden Kriegsmonaten wurden immer mehr Rettungseinsätze mit Helikoptern geflogen. Das ulkige Konstrukt, dass Harmans Kommandant, ein Jagdflieger-As namens Phil Cochran, despektierlich „Egg Beater“, Schaumschläger, nannte, hatte seine Bestimmung gefunden.
Nur ein paar Monate später wurde in Chicago die Internationale Luftfahrtkonferenz abgehalten. Das dabei von 52 Staaten unterzeichnete Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt regelte vieles, vor allem aber etwas, was den Grundstein für die Luftrettung, wie wir sie heute kennen, gelegt hat: der international tätige Such- und Rettungsdienst für Notfälle in Luft- und Seefahrt, kurz: SAR.
Auch wenn noch während des Krieges andere Alliiertenverbände wie die Royal Navy und Royal Air Force die Vorteile des Helikopters für sich entdeckten – Wirklich abgehoben hat das Konzept erst mit einer Innovation, die den entsprechenden Schub lieferte: das Turbinentriebwerk.
Kompakter, leichter, leistungsfähiger und zuverlässiger als die bisherigen Kolbentriebwerke aus Gusseisen, experimentierten schon in den 50ern erste Konstrukteure mit Turbinen in Helikoptern. Die Turbine war es auch, die 1956 den Hauptrotor des bekanntesten Helikopters der Welt das erste Mal auf Drehzahl brachte: die Bell 204, UH-1 (für Utility Helicopter 1) oder kurz: der Huey.
Der erste Hubschrauber, der dafür konzipiert wurde, Leben zu retten.
Wenn Sie, so wie der Autor dieser Zeilen, mit „stonewashed“ Jeansjacke, saurem Regen und Pfleger Mischa aus der Schwarzwaldklinik groß geworden sind, dann erinnern Sie sich sicher auch an das charakteristische Flapp-Flapp des Hueys. Immerhin wurden bei Dornier über 340 dieser Allzweck-Helis gebaut und an die Bundeswehr geliefert. Und heute, seit über 50 Jahren, sind viele dieser Helis immer noch im Einsatz, auch als SAR-Hubschrauber mit der charakteristischen signalroten Tür.
Wahrscheinlich waren es genau diese Helikopter, die einen Arzt aus München dazu brachten, das Rettungswesen in der Bundesrepublik umzukrempeln.
Es waren die späten 60er. Wohlstand regierte im Nachkriegsdeutschland, man zeigte gerne, was man hatte. Die Autos wurden größer, schneller und – vor allem – mehr. Die Folge war ein rasanter Anstieg der Verkehrstoten. Diese Zahl erreichte mit fast 20.000 Toten 1970 ihren Höhepunkt.
Ein gewisser Dr. Hans Burghart, damals Chirurg im Städtischen Krankenhaus München-Harlaching und Notarzt, erkannte schnell, wie wichtig eine schnelle, qualifizierte Erstversorgung am Unfallort ist. Viele Unfallopfer könnten überleben, wenn sie nur schnell genug versorgt und in ein Krankenhaus gebracht werden könnten. Ein Krankenwagen ist dazu nicht immer in der Lage und abhängig von Verkehrslage und -führung. Seine Idee: Ein Hubschrauber soll einen Notarzt so schnell wie möglich an eine Unfallstelle bringen um Verletzte zu versorgen. Burghart wandte sich mit seiner Idee an den damaligen Vizepräsidenten des ADAC, Franz Stadler. Gemeinsam wurde das Konzept der Luftrettung für die Bundesrepublik ausgearbeitet.
Im ersten Schritt wurde vom ADAC im Jahre 1968 eine Bell 206 Jet Ranger gechartert und in einem Feldtest von München-Riem aus als Rettungshelikopter eingesetzt. Zwei Patienten konnten auf normalen Krankentragen übereinander in der Maschine transportiert werden – quer zur Flugrichtung. Platz war Mangelware, die Besatzung bestand nur aus dem Piloten und einem Notarzt. Ein Rettungssanitäter hatte keinen Platz mehr.
„Kolibri“ – so der Rufname der Jet Ranger – flog insgesamt nur 47 Tage als Rettungshelikopter, aber 52 Einsätze. Das Konzept „Luftrettung“ war ein voller Erfolg, obwohl damals noch niemand daran dachte, mit dem Hubschrauber Intensivpatienten zu verlegen oder Schlaganfall- und Infarktpatienten zu retten.
1970 erfolgte schließlich der Startschuss für die deutsche Luftrettung. Christoph 1, eine brandneue Bölkow Bo 105 wurde als erster Rettungshelikopter Deutschlands am Krankenhaus München-Harlaching in Dienst gestellt. „Brandneu“ war Christoph 1 in mehrfachem Sinne: Rettungshelikopter waren neu, die Reihe Bo 105 war neu und Christoph 1 war die erste Serienmaschine dieser Baureihe überhaupt.
Und heute? Fliegen Rettungshelikopter überall auf dem Planeten um das Leben der Patienten. Speziell im Gebirge geht heute ohne Helikopter nichts mehr. Seit 1983 unterhält Österreich seine Rettungshelikopter. 27 Stationen sind es derzeit in der Alpenrepublik. Wo ein Krankenwagen wegen der Berge schon mal einen langen Umweg nehmen muss, wird heute der Helikopter automatisch verständigt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden – da reicht zum Beispiel das Wort „Motorradunfall“.
Die Schweiz hatte ihren ersten bereits in den 50ern im Einsatz, zeitgleich mit dem Start des Feldversuchs in Deutschland wurde hier der erste richtige Rettungshelikopter angeschafft. Wie in Deutschland eine Bell 206 Jet Ranger – der Grundstein der legendären Air Zermatt.
Grob über den Daumen gepeilt sind die über 80 in Deutschland stationierten Rettungs-, Intensivtransport-, Dual Use- und SAR-Hubschrauber im Jahr 2017 zu über 100.000 Einsätzen gestartet. Carter Harman würde sicherlich anerkennend nicken: „Nicht schlecht für ein chinesisches Kinderspielzeug“.